„…there’s the joker in the street, loving one brother and killing the other…”

– Curtis Mayfield

Man muss sich während dieses Films immer wieder selbst daran erinnern, dass es sich um eine Geschichte aus dem Comicuniversum der Batman Mythologie handelt, und nicht etwa um ein Sozialdrama, das auf wahren Begebenheiten beruht, so realistisch und genau schildert Todd Phillips „Joker“ die Genese seiner Hauptfigur. Die legendäre Performance von Heath Ledger als Joker in Christopher Nolans „The Dark Knight“ (2008) hat die Latte für die überzeugende Darstellung eines nihilistischen Bösewichts zwar unerhört hoch gelegt, aber zum einen ist Joaquin Phoenix dieser Herausforderung glücklicherweise mehr als gewachsen und zum anderen unterscheiden sich beide Figuren ganz wesentlich voneinander. Der Reiz von Nolan’s Joker liegt darin, dass er selbst jede kontingente Erzählung von sich ins Unentwirrbare treibt und das permanentes Verwirrspiel um seine angeblichen und tatsächlichen Motive Teil seines chaotischen Masterplans ist. Der geniale Kniff in Nolan’s „The Dark Knight“ ist, dass die nihilistische Psychopathologie des Jokers Batman dazu zwingt eine Art Selbstfaschisierung durch zu machen, mit der sich die Bedrohung zumindest symbolisch bannen lässt. Aber seit Todd Phillips Version von gehässigen Kommentaren und bösartigen Unterstellungen begleitet wird, die dem Film vorwerfen Gewalt zu verherrlichen oder Empathie für einen Verbrecher (und weißen Mann) bewerben zu wollen, sei daran erinnert, dass die tatsächliche Bedrohung in Christopher Nolans Film Batman selbst ist.

Was passiert mit all den Kindern, die misshandelt und verletzt wurden, wenn sie einmal erwachsen geworden sind? Der Film gibt darauf eine sehr eigenwillige, aber nicht weniger schlüssige Antwort: sie werden zu Monstern, wenn man sie mit ihren Dämonen alleine lässt. 

Arthur (Joaquin Phoenix) ist ein psychisch gestörter Mann, der zu Beginn des Films noch versucht, mit sich und seiner Krankheit zu Recht zu kommen, ohne andere damit groß zu behelligen. Seine einzige Leidenschaft ist es, ein Clown zu sein oder vielleicht auch ein Stand-up Comedian, auf jeden Fall jemand, der andere zum Lachen bringt und Kindern im Krankenhaus Trost spenden will. Wäre die Gesellschaft eine andere, als sie ist, wäre aus diesem Mann niemals jener psychopathische Schwerverbrecher geworden, in den er sich im Laufe des Films verwandelt. Arthur will bloß ein Clown sein und sich damit durchs Leben bringen. Er kümmert sich liebevoll um seine Mutter (Frances Conroy), und wenn er abends im Lift nach der Arbeit seine Nachbarin Sophie (Zazie Beetz) und ihre Tochter Gigi (Rocco Luna) trifft, dann würde er gerne mit dieser Frau flirten und ihr nette Dinge sagen, die ihr gefallen. Aber das Leben hat es mit Arthur nicht gut gemeint. In einer der ersten Szenen wird er bei einem Job als Clown auf der Straße, bei dem er ein Werbeschild für einen Laden hin und her schwenken muss, von ein paar Halbstarken überfallen und brutal verprügelt. Sein Chef glaubt ihm die Geschichte nicht und will, dass er das Werbeschild, das ihm die Halbstarken gestohlen und mit dem sie ihn geschlagen haben, auch noch selbst bezahlt. Aber das ist erst der Anfang. Sein Arbeitskollege Randall (Glenn Fleshler) besorgt ihm eine Waffe, die ihm bei einem Auftritt im Krankenhaus vor Kindern aus der Hose fällt. Arthur wird prompt entlassen und steht vor dem Nichts. Seine Sozialarbeiterin (Sharon Washington) teilt ihm mit, dass die Stadt ihre Mittel gekürzt hat und dass er nun auch noch ohne Medikamente da steht. Seine Mutter ist von dem Gedanken besessen, dass der Milliardär Thomas Wayne (Brett Cullen) Arthurs Vater sein soll. Als er später die Krankenakte seiner Mutter aus der psychiatrischen Anstalt entwendet, in der sie einst eingewiesen war, entdeckt er nicht nur, dass sie sich die Vaterschaft Thomas Wayne‘s eingebildet hat, sondern auch dass sie Arthur als Kind Missbrauch und Gewalt aussetzte. Arthurs letzter Halt im Leben, seine Mutter, wird zum finalen Auslöser seiner Gewaltkarriere, die Lügen und Täuschungen mit denen sie versuchte ihrem Sohn das Leben zu erleichtern zu Brandbeschleunigern seiner psychischen Degeneration. Folgerichtig ist nach dem eher zufälligen Mord an drei Yuppies in der U-Bahn, die versuchten Arthur zu demütigen und zu verprügeln, der erste wirklich beabsichtigte Mord jener an seiner wehrlosen Mutter im Krankenhaus, die Arthurs Transfomation in den Joker abschließt. Weitere Gewaltverbrechen sind unausweichlich und weil die Gesellschaft eben die ist, die sie ist, unterstützt eine soziale Revolte der frustrierten und um ihre Existenz fürchtenden Bürger der Stadt Arthur’s Gewaltkarriere und Verwandlung in einen psychopathischen Schwerverbrecher.

Todd Phillips Film ist keine typische Comic Verfilmung und kann auch keine sein, weil ihr Held eben kein Held, sondern der prototypische Schurke des Batman Universums ist. Was wir sehen und miterleben ist eine Gratwanderung zwischen Empathie und Abscheu und der Konfrontation mit der Tatsache, dass auch psychopathische Serienkiller einmal gedemütigte und misshandelte Kinder gewesen sind, so wenig uns das auch gefällt. Das Böse als Archetyp darf keine Geschichte haben, weil es die moralische Simplizität der woke generation einfach überfordert, ihre eigenen Feindbilder zu hinterfragen. Viele negative Kritiken des Films haben darum behauptet, dass „Joker“ die Gewalt, die seine Hauptfigur ausübt verherrlichen würde, weil das Publikum sich mit Arthur identifizieren muss, aber an keinen Stelle des Films wird die Gewalt als notwendig oder gar gerechtfertigt dar gestellt. Sie entspringt der Situation und den Umständen und zum Teil zufälligen Wendungen, wie sie für alle Biographien typisch sind. Was der Film allenfalls deutlich macht ist, dass weder Arthurs Karriere noch die seiner verwandten Artgenossen unvermeidlich oder gar vorher bestimmt gewesen ist. Dass sich Arthur in den Joker verwandelt stand nicht von vornherein fest. Er selbst wollte das so nicht, aber ein Schritt nach dem anderen und ein Schlag nach dem anderen führten ihn dorthin. Es ist nicht so, dass er völlig schuldlos wäre daran oder es nicht seine eigenen Entscheidungen gewesen sind, aber niemand trifft seine eigenen Entscheidungen ohne äußeren Druck und niemand hat völlige Kontrolle über sein eigenes Schicksal. Vielleicht ist Arthur zu schwach, um den moralischen Verfall zu verhindern, aber es waren seine Mutter und die Gesellschaft, in der sie lebten, die Arthur nicht stärker gemacht oder ihn so geschwächt haben, dass er nicht anders konnte. Letztlich zerschellt an diesem Problem alle Kausalität. Es gibt keine letztendlich Schuldigen und niemand hat die alleinige Verantwortung, denn soziale Prozesse sind nun einmal viel zu kompliziert, um monokausale Erklärungen logisch zu begründen. Vielleicht hätten ein paar Investitionen ins Sozialsystem diese Entwicklung verhindern können, vielleicht wäre die Tragödie Gotham City auch erspart geblieben, hätte Arthur nicht die Wahrheit über seine Mutter herausgefunden oder vielleicht hätte eine liebevolle Frau, auf die Arthur zur rechten Zeit getroffen wäre, ihn vor seinem Absturz bewahren können. Der Film gibt keine eindeutige Antwort darauf, weil es diese auch nicht gibt, aber er macht klar, dass man Arthur hätte helfen können, wäre die Gesellschaft so wie sie nun einmal ist, nicht so grausam und lieblos und ohne Mitleid. All die misshandelten und gedemütigten Kinder, die später zu Erwachsenen werden, denen man nur aus dem Wege gehen möchte, deren Bedürfnisse nach Liebe und Zuneigung unerfüllt bleiben und deren Einsamkeit zum Himmel schreit, sie werden in der überwältigenden Mehrheit keine spektakulären Serienmörder oder psychopathischen Schwerverbrecher. Sie werden höchstens Alkoholiker, Junkies, Außenseiter, psychisch Kranke, gewalttätige Eltern oder einfach nur soziale Belastungen, aber sie sind da und ihnen hilft wie auch Arthur, niemand. Vielleicht sollte man sich mit diesem Problem endlich befassen.